Die Last einer frühen Autismusdiagnose

CN: Autismus, Diskriminierung

Ich höre von Autist*innen, die als Erwachsene oder ältere Jugendliche diagnostiziert wurden, oft dass sie meinen dass ihr Leben rückblickend besser gelaufen wäre wenn sie schon als Kind ihre Diagnose bekommen hätten. Dass Menschen, die im Kindesalter diagnostiziert wurden, “Glück gehabt hätten”. Um dieses nicht zutreffende Bild geradezurücken, möchte ich einige meiner Erfahrungen teilen.

Als ich im Alter von 7 Jahren meine Autismus-Diagnose bekam, wurde mir das mit “du bist anders als die anderen” erklärt. In mein sich noch entwickelndes Gehirn wurde damit ein Weltbild eingebrannt, in dem es nur zwei Kategorien von Menschen gab: mich (fehlerhaft) und “die anderen” (normal). Das war die Art, auf die ich die Welt von da an wahrnahm, unzählige psychische Probleme lassen sich darauf zurückführen. Ich musste zur “Therapie” gehen, wo mir beigebracht werden sollte, wie ich mich als Mensch zu verhalten habe. Als die Eltern meiner Klassenkamerad*innen mitbekamen dass ich autistisch bin, versuchten einige von ihnen zu erreichen dass ich von der Schule geschmissen werde, meine einzige “Freundin” durfte nicht mehr mit mir spielen. Das allgemeine Unwissen über Autismus führte dazu dass ich durch die Diagnose in ihren Augen ein soziopathischer, potentiell gefährlicher, selbstzentrierter Roboter war. Mein engeres Umfeld war kaum besser informiert. Da “autistisch” auch das einzige war was mir als Persönlichkeitsmerkmal wirklich zugestanden wurde, habe ich versucht dem (falschen) Bild das die Gesellschaft von Autismus hat möglichst gut zu entsprechen, um wenigstens darin ernst genommen zu werden, und gleichzeitig versucht so neurotypisch wie möglich zu wirken, weil das als gut galt und ich dafür gelobt wurde. Ich habe also doppelt maskiert: als neurotypisch und als “Klischee-autistisch”. Bis heute fühlen sich Informationen über Autismus, egal wie gut und akkurat sie sind, für mich intuitiv wie neue Verhaltensregeln an und lösen Panik in mir aus.

Ich zeigte schon früh Auffälligkeiten die auf psychische Erkrankungen hinwiesen, aber alle Symptome die ich jemals zeigte wurden auf den Autismus geschoben. Bis heute bekomme ich keine anderen Diagnosen gestellt, weil auch die offensichtlichsten Traumafolgesymptome “auch am Autismus liegen könnten”. Gleiches galt für meine Transgeschlechtlichkeit: spätestens seit Anfang der Pubertät gab es klare Hinweise darauf, die ebenfalls als “typisch autistisch” abgetan wurden, erst neun Jahre später habe ich herausgefunden dass Transgeschlechtlichkeit überhaupt existiert und dass ich selbst trans bin.

Obwohl bekannt war dass ich autistisch bin, wurde ich dennoch meist mit neurotypischen Maßstäben gemessen, wenn mein Verhalten “störte” war es egal, ob ich mich so verhalte weil ich autistisch bin. Ich wurde geschimpft und bestraft. Auch oder gerade wenn ich immer wieder zu erklären versuchte dass ich manchen Dinge einfach nicht kann, egal wie oft ich sie versuchte. Wenn es darum ging mich zu infantilisieren und zu entmündigen, war es aber plötzlich doch ein Thema was ich als Autist*in alles nicht kann. Mir wurde nicht zugestanden erwachsen und unabhängiger zu werden, Fehler zu machen aus denen ich lerne und die kein Zeichen dafür sind dass ich als Autist*in nicht fähig bin Verantwortung für mein Handeln zu übernehmen. Das passte nicht in das Bild einer autistischen Person. Bei vielen Sachen/Aktivitäten/Möglichkeiten wurde automatisch angenommen dass sie nichts für mich wären weil ich autistisch bin, ich wurde gar nicht erst gefragt sondern aufgrund der Diagnose von vornherein ausgeschlossen.

Fazit: Das Stigma das mit der Diagnose einhergeht ist enorm. Die Last, die Kindern mit der Diagnose auferlegt wird, ist es ebenso: die Diskriminierungen durch die klare gesellschaftliche Positionierung als “anders” und “gestört”, die Infantilisierung und Entmündigung, die Autismus-Klischees an denen mensch gemessen wird, der Einfluss auf das Selbst- und Weltbild  usw.. Natürlich ist undiagnostiziert aufwachsen auch eine große Last, doch die Alternative ist definitiv nicht besser. In einer Welt ohne Ableismus wäre eine frühe Diagnose vielleicht von Vorteil, aber in einer solchen Welt leben wir nicht.

Also bitte, redet nicht mehr davon was für ein “Privileg” oder “Glück” eine frühe Autismusdiagnose ist. Das tut weh. Ihr habt keine Ahnung wovon ihre redet.